Autor: Reinhard F. Leiter, Executive Coach München
Der Arzt und Psychotherapeut Wolf Büntig beschreibt eine Persönlichkeit als einen Menschen, der etwas darstellt. Aber Darsteller sind wir nicht von Geburt an. Wir werden im Laufe unseres Lebens zu Darstellern. Der Prozess, der dies bewirkt, heißt Konditionierung. Die Konditionierung macht aus einem „ich“ eine Persönlichkeit – allerdings mit einem faden Beigeschmack. Die Konditionierung bringt uns dazu, so zu agieren, wie man es vermeintlich von uns erwartet, wie wir es gelernt haben. Im Gegenzug erwarten wir die entsprechende Belohnung für unser Verhalten. Konditionierung heißt also auch, dass wir gelernt haben, unsere eigenen Bedürfnisse zurückzustellen.
Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, das sich in den zutiefst menschlichen Fragen „Wer bin ich? Wo kommen wir her? Wofür sind wir da? Wo gehe ich hin?“ manifestiert, bleibt jedoch zeitlebens virulent. Wir erleben dieses Bedürfnis in unserem konditionierten Leben als inneren Konflikt. Menschen, die sich diesem Konflikt nicht stellen, entwickeln Symptome wie Materialismus, Burn-out, Sinnverlust, Zynismus. Erziehung und Gesellschaft sorgen in unterschiedlichem Maße dafür, dass wir uns von uns selbst entfremden und in unserer Wahrnehmung beeinträchtigt sind.
Mit der Erziehung beginnt die Charakterentwicklung
Den Begriffen Persönlichkeit und Konditionierung entsprechen die Begriffe Wesen und Charakter. Als einmaliges menschliches Wesen kommen wir auf die Welt, unverwechselbar mit dem genetischen Fingerabdruck unserer Seele, mit der Fähigkeit, Wirklichkeit unverstellt wahrzunehmen und mit der Fähigkeit zu spontanen, direkten Gefühlsäußerungen und Empfindungen. Mit der Erziehung beginnt die Entwicklung des Charakters, an deren Ende die Konditionierung steht. Vorbilder, Erziehung, vorherrschende Ideologien, die Atmosphäre, in der wir aufwachsen, sogenannte „double-Binds“ (Zwickmühlen) sowie Mangel und Traumata sind die Lehrmeister. Das Erlernen von Normen sorgt für den Verlust der Spontanität, der offenen Wahrnehmung, des Gefühls für die Wirklichkeit.
Lieben lernt ein Kind nicht dadurch, dass die Eltern darüber sprechen, sondern durch eine liebevolle Umgebung. Wenn Liebe mit Gewalt gepredigt wird, entsteht nicht Liebe, sondern Gewalt. Die fünf Erziehungsprinzipien, die sich durch jede Gesellschaftsschicht ziehen,
-lass Dich nicht gehen,
-halt den Mund,
-was heulst „n schon wieder,
-lach nicht so blöd,
-mach den Mund zu (wenn jemand staunend vor etwas steht),
sorgen letztendlich für die Konditionierung: Sei kein Mensch, werde normal.
Konditionierung durch Ideologie
Unsere Konditionierung ist eine ideologische und weniger eine politische Konditionierung, eine Konditionierung, die Produktion und Konsum zu den höchsten Werten erhebt. Viele Angehörige anderer Völker schütteln den Kopf darüber, was wir aus unserem Dasein machen, weil sie nicht auf Konsum und Produktion konditioniert sind. Menschen in Afrika beispielsweise bewundern mehr das Muster der Reifenspuren, die eine Harley Davidson hinterlässt als das Chrom glänzende Motorrad, da sie als Weber auf Webmuster geeicht sind und ein Muster, wie das der Reifenspuren noch nie gesehen haben.
Konditionierung durch Mangel
Konditionierung durch Mangel geschieht, wenn wir, nachdem wir auf die Welt gekommen sind, in unserem einzigartigen Wesen nicht respektiert und beachtet werden, wenn Nähe und Freiraum nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind, wenn Eltern wenig Interesse an der Eigenart ihres Kindes haben. Unsere Entwicklung, unser Weg ins und im Leben ist von Traumata bedroht und in besonderem Maße von dem Trauma der drohenden Vernichtung und dem Trauma der Bedrohung des Daseins von innen heraus.
Hinter dem Trauma der drohenden Vernichtung steckt das Gefühl, ein ungewolltes Kind zu sein oder die Erfahrungen von schwerer Gewalt in ganz früher Zeit. Auch eine versuchte Abtreibung löst dieses Trauma aus. Die Folge ist eine Prägung, die Menschen in Stresssituationen dazu veranlasst, zu sagen, „da bin ich lieber nicht da“. Äußerlich erkennt man das Verhalten daran, dass die Augen leer werden und derjenige geistig abwesend ist.
Das Trauma der Bedrohung des Daseins von innen wird bei Säuglingen ausgelöst, deren Schreien bei den Eltern keine Reaktion auslöst, weil diese der Überzeugung sind, dass Kinder nur zu bestimmten Zeiten aufgenommen und gefüttert werden dürfen. Der Säugling erlebt dagegen diese Situation als äußerst bedrohlich, da sein Schreien das Artikulieren einer Bedürftigkeit, einer Not oder eines Schmerzes ist. Es bleibt dann das Gefühl, dass keiner für ihn da ist. Auch Schreien hilft nichts.
Konditionierung durch Double-Binds
Double-Binds sind Zwickmühlen, ausweglose Situationen, in die uns unserer Umwelt bringt. Im Extremfall führen Double-Bind-Botschaften in die Schizophrenie. Die klassische Double-Bind-Situation in unserem Kulturkreis sieht so aus: Sei wie alle anderen, spiel dich nicht auf, aber werde etwas besonders. In der Aufforderung, so zu sein wie alle anderen, werden wir zum Massenmenschen nivelliert, erliegen einer Normapathie. Unter „Normapathie“ versteht man den Verlust der Fähigkeit zu wissen, wer wir im Wesen sind und die Haltung, uns für denjenigen zu halten, der unsere erfolgte Anpassung an die geltenden Normen aus uns gemacht hat. Das Wesen der Normapathie zeigt sich am besten in der bekannten Frage: Wenn eine gesamte Gesellschaft verrückt ist und sich für normal hält, gilt in dieser Gesellschaft dann das einzig normale Mitglied als verrückt? Folgen wir dagegen der zwanghaften Forderung der klassischen Double-Bind-Situation, etwas besonders sein zu müssen, verraten wir unsere eigene Art und unsere Mitmenschlichkeit.
Person und Persönlichkeit
Die Person ist das Sprachrohr für das Wesen. Sie verwirklicht unser Wesen. Eine Persönlichkeit ist jemand, der etwas darstellt. Stimmen Wesen und Person überein, wirkt ein Mensch authentisch. Eine Diskrepanz wird umgangssprachlich als aufgesetzt wahrgenommen. Das Ziel der Entwicklung eines jeden Wesens ist die Authentizität und die persönliche Integration oder, um es anders auszudrücken, jedes Wesen sollte eine Person statt nur eine Persönlichkeit werden.
Identität und Identifikation
Identität ist die Bewusstheit des eigenen Wesens. Identifikation nennt man die Entwicklung der Charakterbildung und deren Ergebnis. Wer früh einen Mangel an Beachtung oder Liebe erfährt, neigt dazu, den Mangel beispielsweise durch die Zurschaustellung von großen Autos oder dicken Bankkonten zu kompensieren. Die Identifikation kann damit den Zugang zur eigenen Identität erschweren oder sogar verhindern. Der Stolz auf Macht, Können, Wissen, Vermögen wird dabei von den meisten Menschen mit Selbstachtung verwechselt. Die erstrebenswerte Befreiung von der Identifikation kann nur durch Selbstachtung und Selbstliebe gelingen, die in einem längeren Prozess der Selbsterfahrung in einem geeigneten Umfeld erarbeitet werden muss mit dem Bekenntnis als Ziel: Ich bin der, der ich bin, sonst gar nichts.
Fixierung auf ein bestimmtes Image
Jedes Bemühen der Selbstaufwertung ist eigentlich eine Selbstherabsetzung. Die Nutzung von Imagemerkmalen wie das Tragen von Markenkleidung und -accessoires oder der Verweis auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Gesellschaftskreisen, auf extravagante Urlaubsziele oder die hierarchische Position im Betrieb und die damit verbundenen Attribute (Titel, Dienstwagen, Größe des Büros) sind immer Botschaften an andere, die besagen: „Schaut her, ich bin gut/mächtig/ beachtenswert/liebenswert usw.“. Aber letztendlich verbirgt sich dahinter nur der Zweifel, dass man ohne diese Attribute nicht beachtet wird. Bröckelt dieses Image, schlägt dieser Zweifel oft in Angst um. Je nach Stressmuster sind die Folgen oft schwer nachvollziehbare Kompensationen.
Autonomie
Autonomie setzt sich aus dem Griechischen „autos“ (selbst) und „nomos“ (Gesetz) zusammen und bedeutet somit die Selbstbestimmung des Menschen über sich und sein Leben. Der autonome Mensch ist im Kontakt mit der Gegenwart und filtert aus der Gegenwart heraus, was er benötigt, um verantwortlich zu handeln als Antwort auf die jeweilige Situation. Er lebt im „hier und jetzt“. Wer seine Autonomie verloren hat, handelt schematisch und nicht situationsgerecht. Seine Aktion ist immer eine Reaktion auf die Vergangenheit. Autonomie setzt die Motivation zur Selbstbestimmung voraus.
Fazit
„Der Wunsch, beachtet zu werden, ist ein Grundbedürfnis! Aber das am meisten vernachlässigte Bedürfnis ist die Beachtung anderer!“
Selbstverwirklichung unterscheidet sich von Egoismus nach Abraham Maslow dadurch, dass wir unseren tiefsten Bedürfnissen nachgehen. Die Grundbedürfnisse erkennt man daran, dass wir erkranken oder sterben, wenn sie nicht befriedigt werden. „Die Sucht ist der vergebliche Versuch, ein Grundbedürfnis mit Ersatz zu stillen…Wenn das Süße im Leben fehlt, kann es nicht durch Zucker ersetzt werden“. (Quelle: Wolf Büntig)
Beachtung und Zugehörigkeit sind solche Grundbedürfnisse. Wenn wir andere Menschen beachten, kommt Beachtung zurück. Eine Führungsperson muss zudem darauf achten, Mitglieder der eigenen Gruppe Außenstehenden immer vorzuziehen, denn die Zugehörigkeit zu einer Familie oder Gruppe ist ebenfalls ein elementares Grundbedürfnis.
Über Reinhard F. Leiter
Reinhard F. Leiter war von 1972 bis 1981 in den Funktionen Leiter Aus- und Weiterbildung und Personalleiter in der Bayer Group tätig. Von 1982 bis 2013 leitete er bei Allianz SE das Zentrale Bildungswesen und war Head of Executive Events. Für diese Unternehmen war er auf allen fünf Kontinenten und in über dreißig Ländern tätig.
Reinhard F. Leiter war Gründungsmitglied des „Arbeitskreises Assessment Center-Führungskräfteauswahl und Entwicklung in DACH“ und jahrelang Vorsitzender dieses Vereins.
Er ist heute certified Coach für Unternehmer ,Senior Leaders und Executive Coach bei SELECTEAM.
Reinhard F. Leiter publiziert regelmäßig.
Neu erschienen sind :
„Global Coaching Excellence? A holistic approach“, Windmühle-Verlag, ISBN 978-3-86451-060-1 gemeinsam mit Dr. Werner Krings.
Reinhard F.Leiter, „Presentation Excellence – A holistic approach“, Windmühle-Verlag, ISBN 978-3-86451-039-7
Reinhard F. Leiter, „Quality Standards of Presentation Excellence“, www.reinhardfleiter.com
Professional Certificate in Coaching (PCIC) / Foundation in Coaching: Henley Business School at University of Reading GB: Certified
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