Ein Interview mit Prof. Dr. Dirk H. Hartel
Soforthilfen, Notfallkredite usw.: Die Coronakrise trifft deutsche Unternehmen hart, viele wie ein Faustschlag ins Gesicht. War unsere Wirtschaft denn gänzlich unvorbereitet? Das Fachgebiet „Risikomanagement“ ist in den vergangenen Jahren immer relevanter geworden und gerade in Zeiten der Coronakrise eine wesentliche Aufgabe des Supply Chain Managements. Wir freuen uns ein Interview mit Prof. Dr. Dirk H. Hartel zu diesem Thema führen zu können.
Dirk Hartel war nach seiner Promotion an der TU München für viele Jahre als Consultant und Partner für Supply Chain Management bei einer mittelständischen Unternehmensberatung tätig. Seit 2007 ist Dirk Hartel als Professor für Supply Chain Management und Logistik an der DHBW Stuttgart tätig und hat bereits eine Vielzahl an Publikationen verfasst. Nebenberuflich trifft man Dirk Hartel des Weiteren auch als Berater, Referent und Trainer an. Auf das Thema Supply Chain Risk Management geht Herr Hartel unter anderem auch in seinem Buch „Pojektmanagement in der Logistik“ ein. Bei Interesse finden Sie den Link dazu finden Sie hier.
Sehr geehrter Herr Hartel, zunächst einmal freuen wir uns mit Ihnen in dieser doch eher außergewöhnlichen Zeit ein Interview führen zu können. Sie sind was Supply Chain Risk Management betrifft ja schon ein alter Hase. Umso mehr sind wir gespannt Ihre Meinung zu diesem Thema und der aktuellen Situation zu hören.
Zu Beginn würden wir gerne einmal wissen: Was bedeutet der Risikobegriff eigentlich für Sie persönlich?
Hartel: Das Schöne am Risikomanagement ist ja, dass wir uns, teils unbewusst, im täglichen Leben damit auseinandersetzen müssen. In Zeiten von Corona heißt „Risikomanagement“ als Privatperson zum Beispiel: Soll ich auf das Einkaufen im Supermarkt verzichten (Risikovermeidung), soll ich mit Maske gehen (Risikoreduzierung), soll ich mir die Ware liefern lassen (Risikotransfer) oder gehe ich das Risiko ein, angesteckt zu werden (Risikoakzeptanz)?
Wie ist Ihre Einschätzung dazu, wie deutsche Unternehmen bisher bzw. in der Vergangenheit mit Risikomanagement umgegangen sind?
Hartel: Über Risikomanagement ist zwar schon viel geschrieben worden, wurde aber in Vor-Corona-Zeiten eher als „ungeliebtes Kind“ betrachtet. Unsere Studies an der DHBW haben zum Thema gezeigt, dass der Durchdringungsgrad abhängig von der Unternehmensgröße ist. Aber selbst bei Großunternehmen wurde es eher sehr abstrakt und meist nur auf Unternehmensebene implementiert. Spezielle Anwendungen in den Fachbereichen Logistik, Einkauf und Supply Chain Management sind auch hier selten. Kunden und/oder Kapitalgeber wollten es, also hat man es institutionalisiert, oft in Stabsstellen, weit weg vom operativen Tagesgeschäft.
Im Mittelstand hat man hingegen oft nicht die Ressourcen, um ein systematisches Risikomanagement im Supply Chain Management aufzubauen, vor allem dann, wenn man es nicht als Einmalaktion betrachtet.
Wenn Sie sich einmal daran erinnern wie die Corona-Krise gestartet hat: Viele deutsche Unternehmen rufen nach Soforthilfen und Krediten. Waren unsere Unternehmen denn gänzlich unvorbereitet oder woran liegt dies?
Hartel: Der Ruf nach finanzieller Unterstützung ist zunächst kein deutsches Phänomen, das sehen wir aktuell etwa auch bei zahlreichen Fluggesellschaften in anderen europäischen Ländern. Dennoch ist Ihre Frage nach der fehlenden Vorbereitung berechtigt. Dass Risiken in der Supply Chain Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg haben, war auch schon früher bekannt: Man denke nur an Niedrigwasser auf dem Rhein, Streiks bei Zulieferern oder Blitzeis auf der A81, die dazu führten, dass große Montagewerke der Automobilisten nicht mehr beliefert werden konnten.
Pandemien galten bislang für europäische Supply Chain Manager als ein Risiko, was vielleicht in Asien oder Afrika auftritt, und dann auch eher lokal. Selbst SARS in den frühen 2000er Jahren hat in Europa nur begrenzte wirtschaftliche Auswirkungen gehabt, nicht ansatzweise vergleichbar mit dem aktuellen „Corona-Virus“. In einer Sondersituation befindet sich gewiss die globale Automobil(zuliefer)industrie, die bereits vor Corona unter strukturellen und konjunkturellen Umbrüchen gelitten hat.
Die Züricher Versicherung schreibt, dass in 2019 ca. die Hälfte aller Unternehmen nicht in der Lage waren abzuschätzen, wie viel Ihrer Risikoverluste tatsächlich abgesichert waren und wie viele nicht. Teilen Sie diese Einschätzung?
Hartel: Die Einschätzung könnte realistisch sein. Im European Payment Report 2019 wird etwa die Aussage getroffen, dass 25 Prozent der befragten deutschen Unternehmen über keine Instrumente zur Vermeidung von Zahlungsausfällen verfügen. Zwar weisen einige Unternehmen ihre Währungskursschwankungen im jährlichen Geschäftsbericht aus, aber das stellt nur einen Teil der Risikoverluste dar.
Grundsätzlich endet bei einigen Unternehmen das Risikomanagement – unabhängig vom Funktionsbereich – mit der reinen Sammlung von Risiken. Auf eine Risikobewertung oder -analyse wird bislang meist verzichtet. Aber ohne Aussagen etwa darüber, wie groß die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer Single Source ist oder zu welchen Kosten Sondertransporte führen, ist der Mehrwert von Risikomanagement extrem begrenzt. Hier sollten Supply Chain Manager Mut beweisen, denn ein Schätzwert von Experten ist allemal besser als gar keine quantitative Aussage!
Uns ist bewusst, dass es keine Glaskugel für die Zukunft gibt. Wenn Unternehmen also kein Allheilmittel besitzen können, ist es dann überhaupt möglich sich effektiv vorsorgen und Stillstände entlang der Supply Chain vermeiden zu können?
Hartel: Die Gegenfrage dazu lautet: „Was wäre denn die Alternative?“. Schon in Zeiten vor Corona hieß es in Supply Chain Management und Logistik, zumindest theoretisch: Ja, man kann auf ein effektives Risikomanagement verzichten, dann müssen eben die Bestände entsprechend erhöht werden. Eine solche „Vogel-Strauß-Politik“ muss man sich aber finanziell erst einmal erlauben können.
Allheilmittel gibt es in der Tat nicht, denn trotz der umfassenden Auswirkungen der Corona-Krise trifft die Pandemie nicht sämtliche Unternehmen bzw. Branchen in gleichem Maße. Ein einfaches „Weiter wie bisher“ wird in komplexen Supply Chains nicht funktionieren. Auf der anderen Seite glaube ich jedoch auch nicht, dass es einen massiven Gegentrend zur Globalisierung der letzten Dekaden geben wird, da Kunden kaum bereit sein dürften, den teils immensen Preisaufschlag lokaler oder regionaler Beschaffungsgüter zu zahlen. Und schlussendlich funktioniert eine solche Local-Sourcing-Strategie in vielen Fällen auch gar nicht, siehe Rohstoffe.
Wichtig ist trotz aller Hektik und der noch eher unklaren Exit-Strategie in vielen Betrieben, dass man sich die Zeit für einen gemeinsamen Lessons-Learned-Workshop im Supply Chain Management nimmt. Folgende Fragen sollten dabei beispielhaft beantwortet werden: Womit hätte man rechnen können oder sogar müssen? Was ist im Krisenmanagement gut gelaufen? Und wo liegen für die Zukunft noch Verbesserungspotenziale? Passt die Lieferantenbasis? Müssen Sicherheitsbestände entlang der Supply Chain in bestimmten Stufen gezielt ausgebaut werden? Wie kann generell die Supply Chain sowohl robust wie auch agil gestaltet werden? Und wenn sich die Verantwortlichen und Fachexperten die Zeit für einen solchen Austausch nehmen, dann spätestens ist der richtige Zeitpunkt für ein Supply Chain Risk Management, zumal das Problembewusstsein bei allen Beteiligten noch entsprechend frisch ist.
Am Ende lässt sich festhalten, dass man Risikomanagement nicht trotz der fehlenden Planbarkeit, sondern gerade wegen ihr im Supply Chain Management betreiben sollte!
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