Start Beruf und Karriere Heuerlinge – arme Schlucker in Nordwestdeutschland

Heuerlinge – arme Schlucker in Nordwestdeutschland

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Rund um Oldenburg – Arme Schlucker und reiche Bauern zwischen 1650 und 1900 – Wie Boden-Mangel eine neue Kaste hervorbrachte. Ein Beitrag von Thomas Friese, Immobilienexperte aus Oldenburg/Niedersachsen und Berlin

Wer das Lebensschicksal weiter Teile der Bevölkerung zwischen 1650 und 1900 betrachtet, stößt in dem Gebiet rund um Oldenburg und in der gesamten nordwestdeutschen Ebene auf ein Phänomen das Heuerlingswesen genannt wird. Das bekannte Werk von Lensing und Robben erläutert unter dem Titel „Wenn der Bauer pfeift, dann müssen die Heuerleute kommen!“ – genau die Verhältnisse zur damaligen Zeit. Das Werk vertieft die Diskussion erheblich.

Wer waren Heuerlinge und wo finden sich ihre Spuren noch heute in Nordwestdeutschland?

Gemessen an der großen Bevölkerungszahl dieser fast landlosen Bauern findet das Thema in der Forschung und geschichtlichen Betrachtung kaum einen angemessenen Platz. Wer heute durch die norddeutsche Tiefebene fährt, hat Schwierigkeiten, überhaupt noch Spuren ihrer Existenz zu erkennen. Das ist erstaunlich, weil doch das Heuerlingswesen binnen weniger Jahre verschwand und zuvor über Jahrhunderte das Bild der Dörfer und der Landschaft mitbestimmt hatte.

Was ist eine Heuer?

Unter „Heuer“ versteht man im Niederdeutschen die Miete und Pacht sowie das dafür zu entrichtende Entgelt. Die Heuer (Pacht) leisteten die Heuerleute an den Landbesitzer. Etwa 400 Jahre prägte das Heuerlingswesen das landwirtschaftliche und gesellschaftliche Bild Norddeutschlands. Juristisch handelte es sich um einen Vertrag zwischen dem Landeigentümer, meist einem größeren Bauern, und einem selbstständigen Heuerling nebst Familie, der eine meist unselbstständige bisweilen auch kleine selbstständige Landwirtschaft führte. Er war abhängig in seinem Tun von seinem landwirtschaftlichen Arbeitgeber, der die marktübliche Pacht für das Land zu zahlen und hin und wieder auch Leistungen für seinen Herrn zu erbringen hatte. Hinzu kam, dass die Ehefrau des Heuerlings auch teilweise zur Mithilfe im Betrieb des Verpächters verpflichtet war.

Landlose Heuerlinge pachten Land von „reichen“ Bauern

Es handelt sich damit juristisch nicht um einen reinen Pachtvertrag, sondern um eine Mischung zwischen verschiedenen Elementen, z. B. für das überlassene kleine Landstück mussten der Heuerling und seine Familie noch Dienstleistungen neben der Pacht erbringen. Als Beweis, dass weite Teile der Bevölkerung in Nordwestdeutschland in der Landwirtschaft bis zur Industrialisierung lebten, muss sich die Bedeutung des Heuerlingswesens für die Gesellschaft vorstellen. Ernährte 1900 noch ein Bauer vier Personen, so waren es im Jahre 2020 statistisch bereits 1,25 landwirtschaftliche Arbeitsstellen, die 100 Personen ernährten.

Heuerlinge – fast jeder zweite war ein armer Heuerling – heute vergessen

Die Bevölkerung, die in Nordwestdeutschland seit Generationen ansässig ist, stellt sich damit zumeist als Nachkommen von Heuerleuten dar. Nach dem 30-jährigen Krieg 1648 und den nachfolgenden kriegerischen Auseinandersetzungen in Nordwestdeutschland, durch Plünderungen, und Brandstiftungen verfiel die Landwirtschaft, sodass erst durch die erstarkte Obrigkeit im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte die Landwirtschaft neu organisiert und die wüsten und vakanten Höfe von den Grundherren wieder besetzt wurden. Das daraus entstehende Bevölkerungswachstum konnte weder durch Auswanderung noch durch einen Zuzug in die Städte ausgeglichen werden. Daher bildete sich eine neue ländliche Schicht, die mit sehr wesentlich geringeren Rechten in der bäuerlichen Dorfgemeinschaft ausgestattet war. Der große Unterschied zu der bisherigen bäuerlichen Schicht war die Landlosigkeit. Die Entstehung des Heuerlingswesens hatte also maßgeblich mit dem Missverhältnis zwischen der Bevölkerungsentwicklung und den entstehenden Heuerlingen zu tun, die keinen Boden mehr hatten. Dadurch, dass häufig der Hof im Generationenwechsel an den ältesten Sohn ging, entstand eine Schicht von Verwandten, die landlos waren. Die verwandtschaftlichen Gemeinsamkeiten und Rücksichtnahmen verlebten sich im Laufe der Jahrzehnte, sodass sich die zweite Generation meistens eine Heuerstelle auf einem anderen Hof suchte und den Erbhof, der auf einen Verwandten gefallen war, verließ. So betrug z. B. in Nordwestdeutschland 1800 der Anteil der Heuerleute über 40 Prozent der Bevölkerung. Bevölkerungspolitisch ist es interessant zu beobachten, dass nach den vorliegenden Statistiken die Heuerleute wesentlich mehr Kinder hatten als die wirtschaftlich potenteren Bauern, die allerdings erst heirateten, nachdem der Hof an sie übergeben worden war. In der Existenz des Heuerlingswesens hatte sich die Zahl der Bevölkerung verachtfacht.

Arbeiten und Leben in schlechten Verhältnissen

Heuerlingshäuser waren meistens von einfacher Struktur, die Menschen lebten mit ihren Tieren zusammen. Es handelte sich um ein sog. „Rauchhaus“, bei dem die Isolation nicht ausreichend war. Zu dem Heuerlingswesen gehörte untrennbar die Besiedelung des wüsten Moores, z. B. in der Fläche südöstlich von Oldenburg. Die Oldenburger Residenz Herrlichkeit konnte sich nur entwickeln wegen der geografisch guten Lage an dem Fluss Hase sowie weil das Siedlungsgebiet von Oldenburg einige Meter über das Wasserlinie der Nordsee liegt. Richtung Niederlande bestand das Oldenburger Hinterland aus einem über Quadratkilometer sich erstreckende wüsten feuchten Moorlandschaft, die de facto nicht besiedelt und landwirtschaftlich zu nutzen war. Nur durch die Urbarmachung durch Graben von Kanälen war es möglich, das überschüssige gesammelte Wasser in Nordwestdeutschland abzuführen und über eine jahrzehntelange schwere Arbeit das Land urbar zu machen. Aus gutem Grund heißen solche Ansiedlungen Fehnkolonien. Fehn ist im Niederdeutschen der Begriff für Moor.

Heuerlinge besiedeln das wüste Moor in Fehnkolonien

Diese Urbarmachung fiel meistens Personen zu, die mittels kleiner Grundstücke in das Gebiet angelockt worden waren, um hier sich eine Existenz aufbauen zu können. Zur Kolonialisierung gehörte auch das Abbrennen des Moores, eine schlimme Umweltverschmutzung. So ist der Moorbrand in den Jahren 1848 in den Jahren 1857 und 1863 sogar im fernen Wien bemerkbar gewesen. Die Oldenburger wurden, in den eigentlich warmen und trockenen Sommermonaten, regelrecht verqualmt, dass sich 1873 sogar in Bremen der „Nordwestdeutsche Verein gegen das Moorbrennen“ gründete. Endgültig verboten wurde diese Form der Urbarmachung der Landschaft erst 1923. Der beißende Moor Rauch zog durch halb Europa. Ironisch sprachen manche wegen der Verwertung von Moor als Brandmittel als Reichslöschstoff. Die Zeit zwischen 1800 und 1900 brachte Veränderungen, zum einen gründeten sich das Deutsche Reich 1871, der wirtschaftliche Aufschwung durch die Industrialisierung war spürbar, zugleich kamen schreckliche Hungerjahre z. B. durch die Krautfäule der Kartoffeln im Jahre 1845. Hilfe gab es nicht. Viele wanderte aus in das gelobte Land – Amerika – und es sollte noch dauern bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Industrialisierung und Mobilität, Bildung und wachsender Wohlstand führten dann zum Ende des Heuerlingswesens in Nordwestdeutschland.

V.i.S.d.P.:
Thomas Friese
Projektentwickler & Immobilienexperte

Über Thomas Friese:
Der Immobilienexperte und Projektentwickler Thomas Friese, Berlin/ Oldenburg (Niedersachsen) ist einer Ausbildung im steuerlichen Bereich seit Mitte der siebziger Jahre im Bereich Immobilienentwicklung und Vermarktung tätig.

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